KV: Magst du dich kurz selber vorstellen?
Kemal: Mein Name ist Kemal Karabulut. Ich wurde im Jahr 1960 im Dersim-Gebiet geboren. Dersim ist ein Gebiet in Anatolien, welches jetzt die sogenannten Türkei ist. Ich bin während meiner Kindheit mit den Erzählungen von meinen Großeltern und Eltern über die Massaker, die in den Jahren 1937/38 in unserem Gebiet verübt worden sind, aufgewachsen. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr habe ich in meinem Geburtsort gelebt. Aus wirtschaftlichen Gründen ist meine Familie dann nach Adana umgezogen. Adana ist eine Industriestadt in der Südtürkei und dort habe ich die Mittelschule besucht und weiterhin in Dersim mein Abitur gemacht. Seit 1977 bin ich in Deutschland. Ich bin als Student hierhergekommen und seit ich hier bin, setze ich mich für Menschenrechte und Demokratie ein. Seit Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre, haben wir in Europa zum ersten Mal eine Kulturgemeinde, die den Dersim-Namen trägt, gegründet. Der Dersim-Name ist wegen diesem geschichtlichen Massaker vom türkischen Staat verboten worden. Wir haben Glück gehabt, dass dieser Name in Deutschland anerkannt wurde und wir uns Dersim Kultur Gemeinde Berlin e.V nennen konnten. 1993 haben wir diese Kultur Gemeinde gegründet; damals war ich Gründungsvorsitzender. Seitdem bin ich dabei.
Danach sind europaweit diverse Kulturgemeinden der Dersimer gegründet worden. Das liegt unter anderem daran, dass Anfang der 60er Jahre viele Dersimer als sogenannten Gastarbeiter*innen nach Europa, überwiegend nach Deutschland, Belgien, Holland, Frankreich, Schweiz, Österreich und in skandinavische Länder, gekommen sind. 2006 haben wir einen Dachverband gegründet: Die Föderation der Dersim Gemeinden in Europa. Und vor zwei Jahren im Jahr 2022 wurde mir die Aufgabe des Föderationsvorsitzenden verliehen. In all diesen Jahren habe ich immer verschiedene Rollen innegehabt und mich engagiert. Ich gebe Ihnen dieses Interview sozusagen sowohl als ein Mitglied/Aktivist der Dersim Kultur Gemeinde Berlin e.V. als auch als Vorsitzender der Föderation der Dersim Gemeinden in Europa.
KV: Was für Aktivitäten führt die Dersim-Gemeinde durch?
Kemal: Die Dersim Kultur Gemeinde ist eine Vertretung einer Minderheit aus Anatolien bzw. der Türkei. Unsere Kulturzugehörigen haben eine eigene Sprache, die Kırmanc-Zaza heißt. Sie ist in der Türkei verboten. Wir haben eine Religion, die man Aleviten oder Kızılbaş nennt, welche ebenfalls in der Türkei verboten ist. Dann haben wir z.B. unsere Cem-Häuser, welche man mit einer Kirche oder Moscheen gleichstellen kann. Aber natürlich sind unsere Gebetshäuser in der Türkei ebenfalls verboten. Durch diese sprachlichen und religiösen Verbote werden wir praktisch gar nicht als eine Kultur anerkannt. Deshalb führen wir diverse Aktivitäten durch. Wir haben in unseren Kulturgemeinden, besonders auch in der Kultur Gemeinde Berlin, Sprachunterricht für Kinder. Wir veranstalten manchmal unsere Gebetsfeierlichkeiten. Wir arbeiten mit Kirchen und mit alevitische Gemeinden zusammen. Denn Aleviten sind nicht nur der Dersimer Kırmanc-Zazas, sondern Alevismus ist vergleichbar mit dem Christentum. Es gibt ihn in mehreren Ländern und Menschen verschiedenster Nationalitäten, die sich Aleviten nennen. Es handelt sich auch um eine große Bevölkerungsgruppe in der Türkei. Das Dersim-Gebiet ist allerdings die Hochburg der Alevit*innen. Gleichzeit ist es ein Schmelztiegel verschiedener Völker. Zum Beispiel haben früher in diesem Gebiet auch Armenier*innen gelebt. Wir haben hunderte von Jahren mit Armenier*innen zusammengelebt, aber sie haben 20 Jahre vor uns ein großes Massaker, einen Genozid erlebt. Sie wurden vertrieben. Man schätzt, dass 1,5 Millionen Menschen in den Jahren von 1914-1916 von Nachbargebieten vertrieben und ermordet wurden. Aufgrund dieser Unterdrückung und dieser geschichtlichen Tatsachen haben die Dersimer*innen sich immer für Gleichberechtigung und für Demokratie eingesetzt, bis heute. Diese Atmosphäre überträgt sich auch auf unsere Kulturgemeinde. Wir versuchen natürlich mit allen Mitteln diese Kultur zu erhalten, denn unsere Sprache geht verloren. UNESCO hat im Jahr 2001 unsere Sprache als sterbende Sprache eingestuft. Wir geben natürlich unser Bestes dafür, dass die hier in Europa lebenden Kulturzugehörigen zusammenhalten und zusammenkommen, dass die Kinder die Sprache lernen, damit sie weitergegeben wird. Seit ungefähr 15 Jahren organisieren wir einmal jährlich ein großes Kulturfestival, bei dem Dersimer*innen aus westeuropäischen Ländern zusammenkommen. Das findet meistens in Nordrhein-Westfalen statt, weil das relativ mittig gelegen ist. Da kommen 3.000-10.000 Menschen zusammen und präsentieren unsere Kultur, unsere Musik, unsere Literatur, unsere Küche, unsere Handarbeiten, unsere Kunst und ähnliche Sachen. Solche kulturellen Aktivitäten werden auch regelmäßig in unserer Kulturgemeinde durchgeführt.
© Dong-Ha Choe
KV: Woran erinnert ihre gemeinsam in eurer Gemeinde?
Kemal: Ich habe bisher eher allgemein erzählt, aber nun möchte ich ein bisschen mehr ins Detail gehen. Wir haben eine Geschichte, die uns Schmerzen bereitet. Unsere Kulturzugehörigen, praktisch unsere Väter und Mütter, haben im Jahr 1937/38 ein großes Massaker durchlebt. In diesem Massaker sind nach örtlichen Angaben über 70.000 Menschen ermordet worden. Aber warum wurde dieses Massaker verübt? Unter der Führung von Atatürk wurde Anfang der 20 Jahren jetzige Türkei nach Untergang des osmanischen Reiches gegründet, welche hautsächlich das anatolische Gebiet beinhaltete. In diesem Gebiet haben auch viele Minderheiten gelebt, die nicht türkisch und islamisch waren. Dazu zählte man u.a.Griech*innen, Armenier*innen, Ezid*innen, Assyrer*innen, Araber*innen und auch unsere kulturzugehörigen Kırmanc-Zazas. Aber Atatürk hatte eine Ideologie entwickelt. Er wollte alles sunnitisieren, also islamisieren und türkisieren. Da viele Minderheiten dem nicht zugestimmt haben und dagegen waren, wurden viele vertrieben und ermordet. Viele andere Kulturen haben auch darunter gelitten. Schließlich mussten sie im Dersim-Gebiet feststellen, dass die Dersimer – Kırmanc-Zazas – weder türkisiert, noch islamisiert, noch sunnitisiert werden konnten. Im Jahr 1937 hat das türkische Parlament dann ein Gesetz beschlossen, um in das Dersim-Gebiet einzumarschieren und die Menschen zu vertreiben und zu vernichten, die dagegen waren. Das steht auch so im Gesetz geschrieben, das am 4. Mai 1937 erlassen wurde. Zuerst wurden die Vorsteher, die gegen diesen Angriff waren, festgenommen. Darunter war ein Mann, der Sey Rıza hieß und bereits über 80 war, und auch sein Sohn, der noch keine 18 war. Auf die Festnahme folgte an einem Wochenende ein Scheingericht. Um die Hinrichtung zu ermöglichen, wurden beim Alter der Beschuldigten falsche Angaben in den Gerichtsprotollen gemacht und sie wurden mit fünf anderen Personen hingerichtet. Das war am 15. November, im Jahre 1937. Wir Dersimer*innen und die Dersim Kulturgemeinden organisieren zwei Großveranstaltungen im Jahr. Einmal im November, am Tag der Hinrichtungen, und einmal am 4. Mai, dem Tag des Magistratsbeschlusses zum Angriff auf Dersim. Diese beiden Andachtsveranstaltungen werden regelmäßig von uns abgehalten.
KV: Wieso möchtet ihr ein Denkmal aufstellen?
Kemal: Unsere Vorfahren haben diese Geschichte erlebt und später sind sie als Gastarbeiter*innen hier in diese Gesellschaft gekommen. Manche wurden sogar als Gastarbeiter*innen geradezu eingeladen. Aus wirtschaftlichen Gründen sind viele Menschen aus der Türkei, besonders aus unserem Gebiet, in europäische Länder gekommen, überwiegend nach Deutschland. Sie sind mit ihrer Kultur, mit ihrer Geschichte, mit ihren Gedanken und mit ihren Schmerzen in diese Gesellschaft gekommen. Nun leben sie seit über 60 Jahren hier. Sie haben jetzt hier Kinder und Enkel, die immer noch mit diesem traditionellen Trauma leben. Um diese Schmerzen und Gedanken einigermaßen zu beruhigen, wollten wir eine Andachtsstelle schaffen, wo wir unsere Geschichte, unsere ermordeten Väter, Großväter, und Großmütter gedenken können und eine Kerze anzünden können. Aus diesem Grund haben wir überlegt, ein Denkmal zu errichten. Es gibt seit Jahren, nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen Städten Europas, dementsprechende Bemühungen, aber der türkische Staat lässt es nicht zu. Die sind mit ihrem Botschafter*innen, Konsulaten und Spitzeln immer hinter dieser Sache her. Das armenische Großmassaker in unserem Nachbargebiet wird ähnlich behandelt. Sie diskutieren und sagen: diese armenische Geschichte ist während des Osmanischen Reiches passiert, aber das Osmanische Reich besteht jetzt nicht mehr und somit trägt der jetzige türkische Staat nicht die Verantwortung. Aber alles, was nach 1920-1923 passiert ist, dafür ist der jetzige türkische Staat haftbar, denn das Massaker in Dersim war ja Mitte der 1930er Jahre, als man hier Europa mit Hitler, Stalin und dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt war. Sie sind damals einfach mit dem Militär in das Dersim-Gebiet reinmarschiert und haben dieses Massaker verübt. Jetzt wollen sie mit allen Mitteln Bestrebungen, an diese Geschichte zu erinnern oder sich generell darüber zu äußern, verhindern. Deshalb haben wir im Jahr 2014 in Berlin unseren Antrag für ein Denkmal gestellt. Nach einigen Monaten ist dieser Antrag in der BVV zur Diskussion gekommen. Die BVV in Kreuzberg hat allerdings auch Mitglieder, die von diversen Parteien, die an nationalistische Kreise angebunden waren, weshalb dieser Antrag sofort an die Öffentlichkeit getragen wurde. In der türkischen Presse und auch in den in Europa erscheinenden türkischen Medien wurde darüber geredet und geschrieben. Wir wurden als Spitzel der Außenmächte deklariert. Man hat gesagt, wir seien Verräter, wir seien Feinde des türkischen Landes, wir seien von türkeifeindlichen Kreisen beeinflusste Menschen. Die Regierung der Türkei sagt, es habe gar kein Massaker durch den Staat und die Behörden gegeben. Es wäre ein Aufstand gewesen und aus diesem heraus musste der Staat dort militärisch eingreifen.
Wir, die Dersimer*innen, haben natürlich nicht aufgegeben. Wir haben unsere Arbeit und Bestrebungen, ein Denkmal zu errichten, fortgeführt. Zum Glück haben wir auch Unterstützung bekommen von diversen Parteien, die in der BVV vertreten waren. Außerdem wurden wir darauf hingewiesen, dass wir mehr Öffentlichkeitsarbeiten durchführen sollten. Danach haben wir mehrere Colloquia durchgeführt in Kooperation mit der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität und der TU. Wir haben unsere Kontakte mit verschiedenen Parteien, mit dem Kulturamt Kreuzberg und deren Museum und mit der Polizei in Kreuzberg verstärkt und von dort ebenfalls Unterstützung bekommen. Der Antrag wurde dann später bei der Kulturkommission der Denkmalbehörde und dem Amt für Migration mehrere Male diskutiert. Wir haben unseren Antrag gestärkt, indem wir auch vielen Delegierten offene Fragen beantwortet haben. Zum Schluss wurde der Antrag wieder auf die Tagesordnung der BVV gesetzt. Ich kann genau sagen, wann das war. Am 27. März 2019 wurde der Antrag nochmal bei BVV bewertet und über ihn abgestimmt. Dem Antrag wurde zugestimmt, nur die CDU hat dagegen gestimmt. Alle anderen vertretenen Parteien in der BVV Kreuzberg haben dafür gestimmt. Dann wurde eine Arbeitsgemeinschaft gegründet unter der Führung der Bürgermeisterin Clara Herrmann. In dieser Arbeitsgemeinschaft waren auch die Denkmalbehörde, das Grünflächenamt, das Kreuzberg-Museum und die Technische Universität vertreten. Im Namen der Antragstellenden bin ich persönlich auch Teil dieser Arbeitsgemeinschaft. In den letzten zwei Jahren haben wir nun an einem Denkmal gearbeitet. Wir haben inzwischen einen Entwurf entwickelt und einen Platz vorgeschlagen, den Oranienplatz. Die Arbeiten gehen jetzt weiter und wir haben jetzt in einem Monat, am 26. April [2024], einen Ortstermin. Mal gucken, wie es läuft, denn da soll entschieden werden, ob wir dort ein Denkmal aufstellen können oder nicht. Wir erwarten diesen Tag sehr aufgeregt.
KV: Was kannst du uns über euer Denkmal erzählen?
Kemal: Wir haben ja vorgeschlagen, dass wir dieses Denkmal am Oranienplatz aufstellen wollen. Da sind manche Ämter dafür, manche Ämter müssen es sich noch überlegen. Aber was sehr wichtig ist, für die Aufstellung eines Denkmals, ist es örtlich bekannt zu machen, sowohl in der Nachbarschaft, an dem Ort selbst oder den Händler*innen, die rundherum ansässig sind. Wir haben darüber diskutiert und die Idee entwickelt, eine Veranstaltung zu organisieren. Zum Glück ist der Oranienplatz für so etwas ein geeigneter Ort. Zu dieser Veranstaltung haben wir diverse Künstler*innen und Wissenschaftler*innen eingeladen. Es waren auch Politiker*innen von unterschiedlichen Parteien dabei, die sich dafür ausgesprochen haben. Sie haben Reden gehalten, Künstler*innen haben ihre Programme aufgeführt, die Nachbarschaft hat sich beteiligt und mehrere hundert unserer Kulturzugehörigen waren da. Einige Tage vorher haben wir den Oranienplatz und alle Nachbarschaften plakatiert, haben Flugblätter in Briefkästen geworfen und sie verteilt. Auf der Rückseite der Flugblätter haben wir unser Anliegen dargestellt, warum wir so ein Denkmal in Friedrichshain-Kreuzberg aufstellen wollen. Wir haben auch die Möglichkeit gehabt, Fragen von Einwohner*innen zu beantworten, und wir hatten ein gutes Programm zusammengestellt. Das war bereits 2021. Wie man sieht, haben wir es in der Praxis erlebt, dass der Vorgang bis zur Errichtung eines Denkmals manchmal, wie bei uns, über 10 Jahre dauern kann. Unseren ersten Schritt, also unseren ersten Antrag haben wir offiziell im Jahr 2014 gestellt und jetzt sind wir im Jahr 2024.
Nach mehrjähriger Vorarbeit wurde 2019 in der BVV über unser Denkmal abgestimmt und letztendlich der Antrag beschlossen. In drei Kommissionen wurde über den Antrag gesprochen: in der Kulturkommission, der Denkmalkommission, und der Integrationskommission. Die sind meist nicht direkt nacheinander gewesen, sondern mit 4- oder 5-monatigen Abständen. Ich war als Vertreter für die Antragsteller*innen dabei. Es waren öffentliche Sitzungen. Oft waren Personen aus Kreisen der türkischen Nationalisten in Deutschland, die von mehreren Vereinen in Berlin und Umgebung kamen, anwesend und versuchten, Gewalt auszuüben. Sie haben mich angeschrien und haben immer wieder gesagt: „Das waren keine schutzlosen Menschen, die ermordet wurden, sondern Guerilla-Kämper.“ Die haben uns auch Vorwürfe gemacht, wir seien Spitzel für türkisch-feindliche Kreise und Politiker*innen. Das ist bei euch bestimmt auch so.
© Quang Nguyễn-Xuân und Thủy-Tiên Nguyễn
KV: Wie geht ihr mit politischem Gegenwind, zum Beispiel von der türkischen Regierung, um?
Kemal: Dazu haben wir ein Papier entwickelt, das wir den Ämtern auch vorgelegt haben. Es wird zurzeit auch in der Arbeitsgemeinschaft, unter Leitung von der Bürgermeisterin Frau Clara Herrmann, über die Sicherheitslage beraten. Wir haben Bedenken, dass dieses Denkmal angegriffen und beschädigt oder beschmutzt wird. Wir wollen für das Denkmal auf alle Fälle ein stabiles Material nehmen. Wir rechnen mit Vandalismus und Schwierigkeiten. Wir erwarten, dass es angegriffen wird und wollen, soweit das machbar ist, möglichst höchste Sicherheit und Schutz an dem Ort des Denkmals bieten. Also, wir denken auch daran, haben schon mehrere Male über Vorschläge und Lösungen diskutiert und mit den beteiligten Künstler*innen darüber beraten. Mal schauen, was auf uns zukommt.
KV: Was erwiderst du, wenn Menschen argumentieren, dass diese Verbrechen oder dieses Erinnern nicht zu oder nach Deutschland gehören?
Kemal: Ich meine, Deutschland ist ja nicht mehr das Deutschland der 30er und 40er Jahre. Inzwischen sind in den letzten 30-60 Jahren aus den verschiedensten Ländern der Welt, Menschen nach Deutschland gekommen. Zum Beispiel die Vietnames*innen, die in die DDR gekommen sind und dann mehrere Jahre in der DDR gelebt haben. Menschen, die aufgrund der Vereinbarungen Anfang der 60er Jahre aus der Türkei, Griechenland, Spanien, Portugal, Italien nach Deutschland eingeladen worden sind. Und schließlich sind dann, mit der Entwicklung von kriegerischen Konflikten und wirtschaftlichen Problemen, Menschen aus Ostasien, aus Afrika und aus vielen anderen Gegenden der Welt nach Deutschland gekommen. Jetzt sind sie inzwischen Bürger*innen des deutschen Staates. Sie leben hier mit ihren Familien, mit ihrer Geschichte, mit ihrer Kultur. Diese Geschichten gehören inzwischen zu Deutschland, da sie zu diesen Menschen gehören, die nach Deutschland gekommen sind. Deswegen ist es meiner Meinung nach auch ein Teil der deutschen Geschichte. Menschen jeder Kultur leben ihre Kultur und verarbeiten ihre Traumata. Das gehört normalerweise zur Demokratie. Uns wird gesagt, dass Deutschland ein demokratisches Land ist, und dass in einer Demokratie alle Menschen in Frieden zusammenzuleben, auch mit ihren Gefühlen und mit ihrer Geschichte. Ich denke daher, dass diese Geschichten, diese Kriege, diese Traumata und Schmerzen auch inzwischen zur deutschen Kultur gehören, und ich finde, das sollte so auch Empfang finden.
KV: Was sind deine Gedanken zum Korea Krieg und Frauen im Krieg?
Kemal: Gewalt an Frauen gibt es leider in jedem Krieg. Man kann nicht sagen, dass die Frauen in verschiedenen Ländern anders behandelt werden. Vor 10 Jahren etwa, 2014/15, kam es zur Vergewaltigung von jesidischen Frauen durch den IS und Frauen wurden teilweise auf Märkten verkauft. Meiner Meinung nach kann man also nicht über einen Krieg reden, ohne über die Vergewaltigung von Frauen zu reden. Ich war zwar damals noch nicht auf der Welt, aber ich habe auch zu dem Krieg in Korea eine emotionale und kulturelle Verbindung. Die Türkei hat sich damals 1950-53 freiwillig gemeldet, am Koreakrieg teilzunehmen, um von der NATO aufgenommen zu werden. Das wurde damals von den USA natürlich wohlwollend bewertet. Damals wurden viele Menschen aus der Türkei, besonders aus nicht-islamischen und nicht-türkischen Kreisen, als Soldaten zusammengesammelt und nach Korea geschickt. Ich habe von meinen Eltern erzählt bekommen, dass auch ein entfernter Verwandter meines Vaters als Soldat dorthin geschickt worden war. In unserer Sprache gibt es darüber ein Lied (das Meso XIDO meso heißt) wie grausam Krieg ist, dass man sich gegen Kriege stellen sollte und, dass machtlose Jugendliche für Kriege als Soldaten geopfert werden. Dieses schmerzhafte Anti-Kriegslied, welches vom Koreakrieg und den dabei Ermordeten handelt, habe ich von Kindheit an gehört.
© Quang Nguyễn-Xuân und Thủy-Tiên Nguyễn