Ein Gastbeitrag von Bahar Sanli
In einer Migrationsgesellschaft wie der unseren ist die Frage, wer erinnern darf, von zentraler Bedeutung, weil die Antwort einem Bekenntnis gleichkommt. Denn in einer Migrationsgesellschaft kann es nicht die eine Erzählung geben, weil die Menschen ihre vielfältigen Geschichten und Erinnerungen über Grenzen hinweg mit sich tragen. In der Migration werden über diese Narrationen Erinnerungsgemeinschaften gebildet, in denen andere historische Konnotationen von Bedeutung sind als die der Mehrheitsgesellschaft.¹ Diese Geschichten, insbesondere jene von kollektiver Gewalt- und Unrechtserfahrung, finden oft erst im Kontext der Migration einen sicheren Raum, wo sie ohne Verfolgung oder Repressalien ausgesprochen werden können.²
Dies ermöglicht betroffenen Gemeinschaften, vom Schweigen zum Handeln zu kommen. Der öffentliche Raum nimmt dabei eine bedeutende Rolle ein: Die Anerkennung und Sichtbarmachung kollektiver Gewalt- und Unrechtserfahrung im öffentlichen Raum sind Schritte zur Ermächtigung und ein wesentlicher Teil der Traumaarbeit. Sie bieten die Möglichkeit, die Deutungshoheit über die eigene Geschichte zurückzuerlangen. In diesen Zusammenhang sollten z.B. auch der BVV-Beschluss zur Errichtung eines Denkmals in Kreuzberg in Gedenken an die alevitisch-kurdischen Opfer des Massakers von Dersim 1937 und 1938 oder die Errichtung einer ökumenischen Gedenkstätte für Genozidopfer im spätosmanischen Reich³ auf dem Luisenkirchhof III in Charlottenburg gesehen werden.
© Dong-Ha Choe
In unseren vielfältigen, migrantisch geprägten Nachbarschaften treffen diese Geschichten aufeinander. Dabei können Allianzen zwischen Migrant*innenselbstorganisationen und/oder Organisationen der Mehrheitsgesellschaft entstehen, die z.B. auf universellen menschlichen Gewalt- und Unrechtserfahrungen basieren. Diese Allianzen geben einerseits Zeugnis von dem Engagement einer migrantisch geprägten Zivilgesellschaft in Deutschland, andererseits sind sie Teil deutscher Migrationsgeschichte, die nicht selten die Verflechtungen von Geschichten der Dominanzgesellschaft mit derjenigen migrantischer Communities offenbart. Ein konkretes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Geschichte um die „Trostfrauen“ und die Friedensstatue Ari in dem migrantisch geprägten Quartier Berlin-Moabit. Vor 13 Jahren erfuhr ich im Nachbarschaftshaus Urbanstraße von den „Trostfrauen“, die im gesamten Asien-Pazifik-Raum durch das japanische Militär verschleppt und sexuell versklavt wurden. Nataly Jung-Hwa Han erzählte als „Migrantin in Deutschland“ die Geschichte dieser Frauen, die mit Kim Hak-Sun 1991 begannen ihr Schweigen in einer patriarchal geprägten Gesellschaft zu brechen.
Seit über 30 Jahren klärt Nataly Jung-Hwa Han mit ihrem Engagement in der AG „Trostfrauen“ des Korea-Verbandes gemeinsam mit koreanischen und japanischen Berliner*innen mit Migrationsgeschichte über die Verbrechen der japanischen Kolonialmacht auf. Sie benennt dabei stetig die Kontinuitäten sexualisierter Gewalt als global immer wiederkehrende Form der Gewalt. In dem „Museum der Trostfrauen“ und seinem Vorgänger, dem Museumsprojekt MuEon DaEon | Sprachlos Vielstimmig, werden die Geschichte der „Trostfrauen“, die Wehrmachts- und KZ-Bordelle des NS-Regimes sowie die Vergewaltigungen von deutschen Frauen durch Soldaten der Alliierten thematisiert.⁴
Dabei werden die Verflechtungen von Geschichten deutlich. So wurden japanische Offiziere in Deutschland ausgebildet. Das japanische System orientierte sich an dem deutschen Vorbild. Im Zweiten Weltkrieg waren Japan und Deutschland Verbündete. Und Deutschland unterstützte das brutale „Trostfrauen“-System durch Bereitstellung von Medikamenten gegen kursierende Geschlechtskrankheiten.⁵ Neben dieser Aufklärungsarbeit ist das Engagement des Korea Verbandes von Austausch- und Dialogarbeit mit dem ezidischen Frauenverein, dem RomaniPhen-Archiv oder den Berlin Muslim Feminists u.a. geprägt. Ari, die Friedenstatue, ist das Ergebnis dieses zivilgesellschaftlichen Engagements in der deutschen Migrationsgesellschaft. Ari, die Mutige, erzählt vom Leid der Frauen aus dem gesamten Asien-Pazifik-Raum und fährt fort mit den Geschichten all der anderen Frauen weltweit, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden. Das Wissen, dass die AG „Trostfrauen“ mit ihrer politischen Bildungsarbeit vermittelt, ist Teil der Erinnerungskulturen einer vielfältigen Migrationsgesellschaft.
Doch aktuell wird Ari von Vertreter*innen der Dominanzgesellschaft als Fremdkörper wahrgenommen. In der aktuellen Diskussion um Erinnerungskultur in Deutschland wird versucht, Ari aus der Öffentlichkeit zu entfernen, da sie angeblich nicht „deutsche Geschichte“ repräsentiere oder einseitig die Geschichte darstelle⁶. Vor zwei Jahren lautete die Begründung des Bezirksamtes, dass mit der „Friedensstatue und ihrer Texttafel ein politisch-historisch belasteter und komplexer Konflikt zwischen zwei Staaten aufgegriffen wird, der sich nicht für die Aufarbeitung in Deutschland eignet“.⁷
Die Rassifizierung/Ethnisierung sexualisierter Gewalt gegen Frauen und das Othering des Sexismus der „Anderen“ kommen in dieser politischen Argumentation klar zum Ausdruck. Diese Argumentation leugnet, dass sexualisierte Gewalt eine patriarchale Praxis ist, die nicht ethnisiert werden darf. Zudem hierarchisiert diese Sichtweise Opfer sexualisierter Gewalt und bewertet sie im Grunde rassistisch – in einer Gesellschaft, die die Istanbuler Konvention und die UN-Frauenrechtskonvention unterzeichnet hat. Der Kampf um Anerkennung und Sichtbarkeit dieser Geschichten zeigt demzufolge, dass Geschichten in ein „Wir“ und die „Anderen“ unterteilt und politischem Kalkül unterworfen werden. Diese rassistische Praxis zerstört das Potenzial für transnationale Allianzen gegen patriarchale Gewalt in unseren Nachbarschaften.
Fazit
Wir brauchen eine Zäsur, ein Bekenntnis zur Migrationsgesellschaft, die ihren Bewohner*innen die Möglichkeit bietet, auf Grundlage der Menschenrechte, ohne Ab- und Aufwertung von Opfern, Diskursräume zu schaffen. Räume, in denen Traumaarbeit, politische Bildungsarbeit und Bündnisarbeit ermöglicht werden.
Das Leben in einer Migrationsgesellschaft ist ein Privileg, da es die Gleichzeitigkeit von Geschichten dank der Aufklärungsarbeit von Selbstorganisationen in unseren Nachbarschaften sichtbar und zugänglich macht und das Universelle der Kämpfe offenbart. Diese Perspektive fördert das Verständnis und die Solidarität zwischen den verschiedenen Gemeinschaften und trägt zu einer inklusiveren und gerechteren Gesellschaft bei.
1)Vgl. „Migration und Geschichte – Weg zu einer transnationalen Erinnerungskultur“ in https://www.bmi.gv.at/104/Wissenschaft_und_Forschung/SIAK-Journal/SIAK-Journal-Ausgaben/Jahrgang_2018/files/Jakubowicz_1_2018.pdf, 03.07.2024
2)Vgl. z.B. https://taz.de/Gedenkstaette-fuer-das-Dersim-Massaker/!5553397/ https://daskulturforum.de/events/konferenz-genozide-erinnern-und-aufarbeiten-nicht-anerkannter-genozid-tertele-von-dersim-1937-38/ , https://www.nisibin.de/events/sayfo-veranstaltungswoche-2015/eroeffnung-der-sayfo-gedenkstaette, https://anfdeutsch.com/aktuelles/mullivaikkal-gedenken-in-berlin-26276#:~:text=Der%2018.,Tamil%3Ainnen%20das%20Leben%20kostete.
3)Vgl. hierzu https://migrations-geschichten.de/umkaempfte-erinnerung/
4) https://trostfrauen.museum/, https://mueondaeon.net/, 03.07.2024
5)Nataly-Jung-Hwa-Han_Ansprache.pdf (aga-online.org), 03.07.2024
6)https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2024/pressemitteilung.1447246.php vom 16.05.2024, https://taz.de/Trostfrauenstatue-soll-verschwinden/!6013742/, 03.07.2024
7)Wirbel um „Trostfrau“: Statue kann vorerst bleiben – Moabit (berliner-woche.de) vom 16.10.2020