Ein Gastbeitrag von Tessa Hofmann
Berlin ist eine Stadt der vielfältigen Erinnerungen. Wie alle Metropolen zog sie Menschen unterschiedlicher Kulturen, Sprachen und Glaubensrichtungen an. Die preußischen Könige förderten insbesondere den Zuzug verfolgter Protestanten aus Böhmen und Frankreich, auch in der Hoffnung auf vermehrte Steuerzahler. Der Französische Dom am Gendarmenmarkt und Rixdorf im heute überwiegend muslimischen Neukölln erinnern an die evangelische Zuwanderung.
Wenn Menschen verfolgt und vertrieben werden, flüchten sie oft nur mit ihrem Erinnerungsgepäck. Dies kann zur schweren Last werden, insbesondere, falls sie unsichtbar bleiben muss. Verfolgte und Flüchtlinge, insbesondere aber Überlebende von Völkermord besitzen aber das Bedürfnis, die oft ahnungslose Mehrheitsgesellschaft ihrer Zufluchtsländer mit diesem Gepäck zu konfrontieren, es sichtbar, teilbar und mittragbar zu machen. Lehre Nummer Eins: Dabei stoßen sie auf die Erfahrung, dass es stets die unbeteiligte Mehrheit einer Gesellschaft ist, die bestimmt, was kollektiv erinnert wird und was nicht. Als 1998 der Bremer Genozidwissenschaftler Gunnar Heinsohn versuchte, über den damaligen Staatssekretär für Kultur eine deutsche „Anerkennung“ des osmanischen Genozids zu erreichen, wurde ihm mitgeteilt, dass Deutschland dafür nicht zuständig sei: Der Genozid an etwa drei Millionen orientalischen Christen sei nicht auf deutschem Staatsgebiet erfolgt. Folglich habe Deutschland diesbezüglich keine Verpflichtungen. Für alle, die an entsprechenden Gedenkorten, -tafeln etc. interessiert waren, war dies Lehre Nummer Zwei: Mindestens eine Schnittstelle zur deutschen Geschichte und vor allem zur deutschen Mit-Verantwortung musste gesucht und gefunden werden. Sie fand sich in der deutsch-osmanischen Waffenbrüderschaft im Ersten Weltkrieg. Als wichtigster Militärverbündeter des Osmanischen Reiches war Deutschland der gut informierte Mitwisser und Nutznießer des Menschheitsverbrechens seiner jungtürkischen Verbündeten. Ein zweiter Grund bestand darin, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Einwanderungsland geworden war, wobei türkeistämmige Menschen die größte Zuwanderungsgemeinschaft bildeten. In deutschen Schulen sitzen nun die Kinder von Türken, Kurden, Armeniern (aus der Türkei und anderen Herkunftsländern), kleinasiatischen und ostthrakischen Griechen sowie Syro-Aramäern.
Auf diese Schnittstellen preußisch-osmanisch-deutsch-türkischer Geschichte wies auch die transnationale Initiative „Organisationskomitee ‚Mit einer Stimme sprechen!‘“ hin. Es handelte sich um einen bis dahin erst- und einmaligen Zusammenschluss von Nachfahren kleinasiatischer Christen, die den osmanischen Genozid von 1912-1922 überlebt hatten. Das Organisationskomitee beschloss, die Opferrivalität durch Solidarität zu ersetzen und die Gemeinsamkeiten ihres historischen Schicksals zu betonen.
Nachdem der Deutsche Bundestag im Juni 2005 sich in einer ersten Resolution zur deutschen Mitverantwortung am Genozid der so genannten Jungtürken bekannt hatte, nahm das Organisationskomitee Kontakt zur sozialdemokratischen Bürgermeisterin von Charlottenburg-Wilmersdorf und zur dortigen Gedenktafelkommission auf. Denn es sind die Ortsbehörden, die über die Errichtung von Gedenksteinen entscheiden. Die Bürgermeisterin stand dem Wunsch, in Charlottenburg einen Gedenkstein zur Erinnerung an den Genozid zu errichten, grundsätzlich positiv gegenüber. Aber nun kommt Lehre Nummer Drei: Der Teufel steckt im Detail. Das Organisationkomitee schlug mehrere prominente Orte im öffentlichen Raum für die Errichtung des Steins vor: gegenüber dem Charlottenburger Schloss, am Ende der Schlossstraße, oder am Kurfürstendamm an der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche. Oder am Eingang zum Lietzenseepark. Oder bei der syrisch-orthodoxen Kirche Mor Afrem am Mierendorffplatz. Aber keiner der Vorschläge vermochte die Bürgermeisterin und die Vorsitzende der Gedenktafelkommission zu überzeugen, dass der Stein an dieser Stelle vor mutwilligen Beschädigungen geschützt sei. Die muslimische Bevölkerung des Bezirks stünde der Errichtung ablehnend gegenüber, wurde vermutet.
Weil eine Errichtung im öffentlichen Raum auf absehbare Zeit unmöglich schien, schlug man als Kompromiss den halböffentlichen Raum auf dem Luisenkirchhof III im Ortsteil Westend vor. Zur evangelischen Luisengemeinde unterhielt die Armenische Kirchen- und Kulturgemeinde Berlin e.V. bereits enge Beziehungen bzw. nutzte deren Räumlichkeiten. Bei der Besichtigung des Friedhofs stießen die Vertreter des Organisationskomitees am Ende der Hauptachse auf drei aufgelassene Erbbegräbnisstätten in der Nähe des Grabes von Angehörigen von Dr. Johannes Lepsius, dem prominenten Fürsprecher der verfolgten Armenier und Dokumentar ihrer Vernichtung vor und während des Ersten Weltkrieges. Der Friedhofsverwalter erreichte, dass die Luisengemeinde der dauerhaften Nutzung dieser Erbbegräbnisse als Gedenkstätte für die Opfer des osmanischen Genozids zustimmte. Das Organisationskomitee gründete daraufhin den gemeinnützigen Verein Fördergemeinschaft für eine Ökumenische Gedenkstätte für Genozidopfer im Osmanischen Reich (FÖGG ) und übernahm die Mühen zur Restauration und Instandhaltung der Erbbegräbnisstätten als Gedenkstätte.
© Uli Kretschmer
Und dies sind Lehren Nummer Vier und Fünf: Manchmal muss man Kompromisse schließen. Wobei es besser kommen kann, als erwartet. Denn aus dem anfangs bescheidenen Vorhaben eines Gedenksteins war eine großflächige Gedenkstätte geworden, mit Platz für drei Infotafeln, Sitzbänke und Dutzende Gedenksteine an die Herkunftsorte der Völkermordopfer und an einzelne Opfer.
Die professionelle, also architektonische Gestaltung dieser Stätte setzte natürlich auch die Einwerbung und Beantragung von Fördermitteln voraus, unter anderem beim Landesdenkmalamt und der Berliner Lottostiftung. Von knapp 200.000 EUR, die das gesamte Projekt in den kommenden vier Jahren kostete, stammen 108.200 EUR aus öffentlichen Mitteln. Das führte zu einer offiziellen Anfrage der türkischen Botschaft Berlin beim Berliner Senat: Ob etwa das Land Berlin diese Gedenkstätte finanziert habe? Nach einigem Hin und Her lautete die offizielle Antwort aus dem Senat: Der Luisenkirchhof III sei natur- und denkmalgeschützt. Das dafür zuständige Berliner Landesamt für Denkmalschutz unterstütze finanziell die Restauration und Pflege der fraglichen drei Erbbegräbnisse und somit auch deren weitere Verwendung als Gedenkstätte. Und damit hatte es sich. Die türkische Botschaft gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Hinzuzufügen ist, dass unweit der Gedenkstätte ein muslimisches Gräberfeld liegt und zahlreiche Muslime unterschiedlicher Nationalität den Luisen-Friedhof III besuchen. Manche machen dabei gern einen Abstecher zur Genozid-Gedenkstätte. An den regelmäßigen Gedenktagen von Armeniern und Griechen beteiligen sich von Beginn an auch Muslime (Türken, Kurden, Perser).
Die Ökumenische Gedenkstätte für Genozidopfer ist ein kollektiver und individueller Trauer-, Mahn- und Lernort. Angehörige der betroffenen ethno-religiösen Gemeinschaften können hier ihrer ermordeten Vorfahren gedenken, von denen fast alle unbestattet blieben. Sie wurden an abgelegenen Orten erschlagen oder brachen während der Todesmärsche erschöpft und seuchenkrank zusammen. Die Orte ihres Sterbens sind den meisten Nachfahren unbekannt. „Dank der Gedenkstätte habe ich nun einen Ort, wo ich am 24. April, dem Genozidgedenktag der Armenier, eine Rose für meine ermordeten Vorfahren niederlegen kann“, sagte eine der armenischen Initiatorinnen. Ihre Vorfahren stammten aus der Stadt Sivas.
© Uli Kretschmer
Zugleich mahnt die Gedenkstätte die Verurteilung dieser Verbrechen an. Dabei geht es nicht nur um die Vergangenheit. Gerade die Ereignisse der letzten drei Jahre im Südkaukasus haben gezeigt, wie gefährdet armenisches Leben bis heute ist, nicht nur im Südkaukasus: „Seit dem Wiederaufflammen des Bergkarabach-Konflikts im September [2020] häuften sich auch die Angriffe und Todesdrohungen der rechtsextremen türkischen Grauen Wölfe und radikaler Aserbaidschaner auf Armenier in Deutschland. Armenische Familien haben Drohbriefe erhalten, ihre Geschäfte wurden demoliert, ein Auto der armenischen Botschaft in Berlin wurde angezündet. Betroffene baten deutsche Politiker um Hilfe, die jedoch ausblieb.“¹ Wiederholte, stets völkerrechtswidrige Militärangriffe Aserbaidschans auf die De-Facto-Republik Arzach und sogar auf die Republik Armenien, eine neunmonatige Hungerblockade gegen Arzach, die Ende September 2023 in der Massenvertreibung von über 100.000 Menschen gipfelte, belegen die anhaltende Gefahr. Schon im August 2022, Monate vor der Hungerblockade, warnten nationale und internationale Menschenrechtsorganisationen sowie Genozidwissenschaftler vor der imminenten Genozidgefahr, in der sich vor allem die Arzacher Bevölkerung befand. Nun hat das Land sein Volk und das Volk sein Land verloren. Der größte Schock für Armenier war vermutlich die Erkenntnis, dass die Welt, ebenso wie schon im Ersten Weltkrieg, den Verbrechen untätig zuschaute. Was damals geschah, hat sich heute in kleinerem Maßstab wiederholt und könnte sich weiter wiederholen. Oder wie der jüdische Genozid-Verlebende und Generalstaatsanwalt Fritz Bauer es formulierte: „Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“ Auch der Schmerz der wiederholten Verfolgungserfahrung, auch dieser Kummer und diese Ängste werden zur Gedenkstätte getragen und dort abgelegt, wie auch die Blumen, Kränze und Kerzen.
Die Gedenkstätte bildet seit 2015 ein Ziel stadthistorischen Führungen oder Führungen von Schulklassen, um sie über den ersten großmaßstäbigen Genozid im 20. Jahrhundert zu informieren. Die Schüler stehen vor der zentralen Gedenktafel und betrachten den Riss in der rostigen Cortenstahl-Tafel, der die Wunde symbolisiert, die durch die Leugnung des Genozids aufgeklammert bleibt. Sollte die offizielle Türkei je den Genozid förmlich anerkennen bzw. verurteilen, wird der Riss zugeschweißt. Diese Symbolik empfinden die Besucher der Gedenkstätte als besonders eindrucksvoll, ebenso wie die sechs „Ikonen der Vernichtung“ auf den Seitenflügeln der „Altäre der Erinnerung“. Die „Ikonen“ zeigen historische Schwarz-Weiß-Fotografien der genozidalen Vernichtung im Kontrast zu sechs goldfarben gefassten, universalen Grund- und Menschenrechte: Leben, Freiheit, Sicherheit, Glauben, Kultur und Heimat. Daraus folgt Lehre Nummer Sechs: Jegliches Gedenken sollte eine universale, allen verständliche Botschaft enthalten.
In jedem September bietet FÖGG e.V. eine Führung am Tag des Offenen Denkmals an. Lehre Nummer Sieben lautet daher: Erinnerung trägt zur Prävention künftiger Verbrechen bei. Denn sie widerlegt Genozidtäter wie Adolf Hitler, der sich 1939 – nur 24 Jahre nach dem jungtürkischen Genozid an 1,5 Millionen Armeniern – auf das kurze Gedächtnis der Weltöffentlichkeit berief: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Dem setzen wir den bekannten Satz der russischen Lyrikerin Olga Bergholz entgegen, die die genozidale Hungerblockade von Leningrad überlebte: „Niemand ist vergessen und nichts wird vergessen.“
© Uli Kretschmer
Und schließlich ist die Ökumenische Gedenkstätte auch als Begegnungs- und Versöhnungsort konzipiert. Gemeinsame Aufarbeitung gemeinsamer dunkler Geschichtskapitel bildet dafür die geeignete Voraussetzung. In der Teilnahme von Türken und Kurden an Gedenkveranstaltungen manifestiert sich die Aussöhnung.
Gibt es Berührungspunkte zwischen der koreanischen Friedensstatue und der Ökumenischen Gedenkstätte? Unbedingt ja. Die Friedensstatue erinnert uns daran, dass Hunger- und Zwangsprostitution häufige Bestandteile von Völkermord sind. Das galt auch für den jungtürkischen Genozid an den Armeniern. Als „religiöser Genozid“, wie ihn der polnisch-jüdische Hauptautor der UN-Genozidkonvention einstufte, besaß er traditionelle dschihadistische Elemente. Dazu gehörte die ausgeprägte Geschlechterdifferenz: die Massakrierung der erwachsenen Männer sowie die Versklavung von Frauen und Kindern. Das Leid der Armenierinnen, ihre systematische Entwürdigung, ihre Freiheitsberaubung bis hin zur Zwangsprostitution, war über Jahrzehnte ein vernachlässigter, wenn nicht tabuisierter Aspekt dieses Genozids. Die Friedenstatue macht ihn sichtbar. Im Übrigen besteht auch hier eine Schnittstelle zur deutschen Geschichte: Japan war ein Kriegsverbündeter Nazideutschlands im Zweiten Weltkrieg. Diese Kriegsbündnisse Deutschlands mit genozidalen Regimen im Ersten und Zweiten Weltkrieg gilt es weiterhin aufzuarbeiten.