KV: Kannst du dich kurz vorstellen?
Nure: Ich heiße Nure Alkış. Ich lebe seit Ende der 90er Jahre in Berlin, Deutschland. Ich bin Mutter von fünf Kindern, die sind inzwischen alle groß, und Oma von 9 Enkelkindern. Seit 11-12 Jahren bin ich aktiv für Frauenrechte, Menschenrechte und für Menschen, die unterdrückt sind.
KV: Bei welcher Organisation bist du aktiv? Wofür setzt du dich in deinem Aktivismus ein?
Nure: Wir sind Eziden oder das ezidische Volk. Wir wohnen jetzt seit Jahren größtenteils in Deutschland. Wir stammen von einem Volk ab, welches wirklich 74 Genozide erlebt hat, also wirklich 74 Mal sollte das ezidische Volk vernichtet werden, aber dagegen hat das ezidische Volk natürlich Widerstand geleistet. 74 Widerstände gab es vom ezidischen Volk, besonders von ezidischen Frauen. Wir haben im Januar 2014 unseren Verein gegründet. Damals war das der Frauenrat-Berivan. Dann haben wir allerdings beschlossen, dass es nicht nur einen Rat geben soll, sondern, dass wir uns mehr organisieren müssen. Noch bevor wir den Frauenrat-Berivan gegründet haben, hatten wir hier in Berlin bereits ein Komitee bestehend aus fünf Personen. Dieses bestand aus vier Ezidinnen und noch eine Alevitin hat uns damals unterstützt. Aber 2015, nachdem der 74. Genozid in Şengal passiert ist, da haben wir beschlossen: „Wir müssen uns vergrößern!“ Aus unserem Komitee hier in Berlin haben wir unseren Frauenrat, den ezidischen Frauenrat Binevs Edessa, gegründet. Seitdem arbeiten wir für die Erhaltung der ezidischen Kultur und der ezidischen Gesellschaft, damit unsere Kinder hier wirklich unsere Sprache, unsere Kultur und unser Dasein nicht vergessen. Außerdem setzen wir uns für natürlich auch für die Frauen ein, die immer noch Sklavinnen sind, damit diese befreit werden können. Da gibt es viel zu tun für uns. Unsere Frauenräte sind auch in fast ganz Deutschland verbreitet. Wir haben auch einen Dachverband, welcher z.B. aus unseren Frauenräten in Berlin und Aachen bestehen. Außerdem gibt es unsere Komitees in Bielefeld, in Hannover, im Celle-Heidekreis, in Wesel, in Emmerich und im Saarland. Wir arbeiten viel gemeinsam, aber natürlich nicht nur unter uns, sondern auch mit vielen anderen Frauenvereinen.
KV: Wir, der Korea Verband, haben ja angefangen mit euch zusammen zu arbeiten. Möchtest du dazu etwas sagen?
Nure: Als wir die „Trostfrauen“ kennengelernt haben, ist es mir vorgekommen, als hätten wir eine verlorengegangene Schwester gefunden. Warum sind wir uns so nahe? Ich glaube, weil die Geschichte der „Trostfrauen“ und die Geschichte der ezidischen Frauen, die den Genozid erlebt haben, gleich ist. Ich meine, für das Patriarchat spielt es keine Rolle, wer ezidisch oder koreanisch ist oder wer aus welchem Land, aus welcher Ethnie stammt. Deren Ziel sind immer Frauen. Für uns ist es wichtig gewesen, damals, wie heute und in Zukunft wird das weiterhin gleichbleiben, dass wir unsere Solidarität mit den koreanischen Frauen, also den „Trostfrauen“ noch gemeinsam vergrößern und weiterhin zusammenarbeiten. Denn unsere Zukunft und unsere Präsenz in der heutigen Zeit, sind wirklich stark mit unserer Vergangenheit verbunden. Solange wir unsere Geschichten, die wir Frauen erlebt haben, nicht an den Tisch bringen, sondern unter den Teppich kehren lassen, solange können wir unsere Zukunft nicht aufbauen. Deswegen ist es für uns so wichtig, dass wir unsere Zusammenarbeit gemeinsam stärken. Dann können wir sagen: „Ihr könnt uns nicht vernichten und ihr könnt uns nicht mit euren schönen Worten blenden und glücklich machen. Wir werden mit Widerstand das erreichen, für was wir kämpfen.“
KV: Wie hast du unsere Aktionen erlebt?
Nure: Was ich bei eurer Aktionswoche erlebt habe, dass hat mich sehr gefreut. Vor allem, dass die Frauen, die an den Veranstaltungen des Vereins teilnehmen, wirklich bewusst mit dem Willen Widerstand zu leisten dabei sind. Aber was mich traurig gemacht hat war, dass eher wenig Jugendliche dabei waren. Denn es geht ja, wie ich vorhin gesagt habe, um unsere Zukunft und unsere Zukunft kann nur mit Jugendlichen gestaltet werden. Sie sind jung und haben ein Leben für sich. Sie sollten aktiver sein und diese gemeinschaftlichen Angelegenheiten mehr an die Öffentlichkeit tragen. Was mich am meisten traurig stimmt, ist, dass wir Frauen meistens zuerst beschuldigt werden, wenn wir unsere Rechte einfordern und erklären, dass Ungerechtigkeit herrscht, die geklärt werden muss. Das liegt daran, dass auf der ganzen Welt diese männliche Macht vorherrscht. Diese gibt es ja nicht erst seit gestern, sondern wir reden von 5000 Jahren, in denen diese Macht Frauen unterdrückt. In diesen 5000 Jahren haben sich männliche Machtstrukturen überall verbreitet und regieren nun die ganze Welt und, weil wir Frauen nicht an ihnen teilnehmen, gibt es natürlich viele Kriege. Die Frauen sind ein Symbol für den Frieden, egal, wo man ist. Allerdings denken Frauen hier in Europa meiner Meinung nach anders. Ich möchte nicht irgendwelchen Frauen Vorwürfe machen, sondern gebe nur wieder, was ich in den 34 Jahren, in denen ich bereits in Deutschland lebe, gesehen habe. Die Frauen, die hier z.B. in Europa leben, die sind zufrieden mit Kleinigkeiten. Es kommt mir manchmal so vor, als sei für sie ein Leben, ein freies Leben mit Gleichberechtigung von Mann und Frau, nicht so wichtig. Zum Beispiel, wenn wir über den 8. März reden, den Tag an dem, wie ihr wisst, die Frauen 1857 das erste Mal gesagt haben: „Wir wollen Gleichberechtigung! Wir wollen, dass wir auch, wie Männer weniger arbeiten müssen. Wir wollen, dass wir auch gleichen Lohn bekommen!“ Daraufhin haben die damals angefangen, 124 Frauen zu verbrennen. Die wollten die Stimme der Frauen zum verstummen bringen, aber diese starken Frauen, die sich schon damals dazu bereit erklärt haben für die Freiheit der Frauen zu kämpfen und mit der Zeit auch andere Frauen, die gesagt haben: „Ja, unter diesen Umständen können wir uns nicht vorstellen glücklich zu werden. Wir werden etwas dagegen tun.“ Heute gibt es inzwischen mehr Frauenvereine und mehr Solidarität, aber wie gesagt, das hat uns Frauen auch wirklich tausende dafür Gefallene gekostet und zu denen gehören die „Trostfrauen“, ezidischen Frauen und auch andere Frauen, die wir vielleicht gar nicht kennen.
KV: Was ist deine Verbindung zur Friedensstatue? Was kann sie für eure Community bedeuten?
Nure: Für mich symbolisiert die Friedensstatue wirklich Frieden. Wenn ich von ihr höre, dann habe ich Hoffnung. Für mich steht sie für Hoffnung. Für ezidische Frauen steht sie für Hoffnung. Für mich ist das so: Wenn eine Sache noch nicht aufgeklärt wurde, dann ist es für uns ezidische Frauen wie ein Blatt, das aus einer Baumkrone gefallen ist. Wir werden gemeinsam diese Blätter sammeln und zusammenbringen. Wir werden dafür Widerstand leisten und es schaffen diese Sachen zu überwinden. Gemeinsam.
© Quang Nguyễn-Xuân und Thủy-Tiên Nguyễn
KV: Welche Rolle spielt Erinnerung für euch in eurem Aktivismus? An was erinnert ihr und wie erinnert ihr?
Nure: Wir als ezidische Frauen bekommen unsere Kraft von unserer Vergangenheit. Wenn ich z.B. zurückblicke, dann erinnere ich mich an den 03. August 2014. Unsere Vorfahren haben oft von den 73 Genoziden vor dem am 03. August 2014 erzählt. Aber weil wir sie nicht selbst erlebt haben und weil es weder Filme noch Dokumentationen über diese Genozide gab, haben wir tatsächlich oft gezweifelt: „Vielleicht erzählen die ja nur Geschichten?“ Aber als wir dann selbst gesehen und gehört haben, was im August 2014 passiert ist. Ich selbst war auch 2021 in Şengal und habe die Spuren dort gesehen. Die Erinnerung an das, was das ezidische Volk und an erster Stelle betroffene ezidische Frauen dort erlebt haben, sitzt sehr tief. Das ist wirklich eine Verwundung, die man nicht so leicht in Ordnung bringen und heilen kann. Genau dasselbe gilt für die „Trostfrauen“ und was sie erlebt haben. Da gibt es für mich wirklich keinen Unterschied. Die Verwundung, die die „Trostfrauen“ erleiden mussten, ist nicht anders, als die des ezidischen Volkes und der der ezidischen Frauen am 03. August 2014. Aber das heißt nicht, dass wir uns nur zusammensetzen, um über unsere Schmerzen zu weinen, sondern wir bekommen unsere Kraft davon, um gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen. Unsere gemeinsame Geschichte macht uns einander nahe und stärkt unsere Solidarität untereinander.
KV: Die Dersim-Gemeinde plant, ein Denkmal in Berlin zu errichten. Was denkst du dazu?
Nure: In Dersim haben die Alevit*innen im Jahr 1937 und in Maras (Massaker 19. – 24.12.1978) genauso einen Genozid erlebt, wie wir. Wenn ich daran denke, dass diese Genozide nur passiert sind, weil sie Alevit*innen sind. Alevit*innen und Ezid*innen stehen sich in ihren religiösen Ansichten sehr nah. Ich meine damit jetzt nicht, dass sie auch Kurd*innen sind, sondern dass sich der Glaube in einigen Punkten sehr ähnelt. Sie glauben auch an die Sonne, das Feuer und die Erde. Für sie sind diese Dinge auch so wichtig, wie für uns Ezid*innen. Wir spüren ihren tiefen Schmerz über das, was sie erlebt haben, denn der Schmerz der unterschiedlichen Völker und der ihnen angehörenden Frauen ist auch unser Schmerz. Die alevitischen Frauen haben 1937 in Dersim nicht weniger Schlimmes erlebt, als die „Trostfrauen“, und auch nicht weniger als die ezidischen Frauen. In Dersim ist auch etwas Spezielles passiert. Das türkische Regime hat damals über 30.000 Schulen gegründet, damit sich die Alevit*innen in Dersim nicht als alevitisches Volk, sondern als Türken benennen. Es ist für uns eine Ehre, dass heute versucht wird, in Dersim einen Gedenkort zu errichten.
KV: Denkst du, dass der ezidische Frauenrat ebenfalls ein Denkmal errichten möchte? Kann die Friedensstatue für euch auch ein Denkmal sein oder ist es ein Problem, dass sie eine andere Herkunft hat?
Nure: Nein, weil im ezidischen Glauben verhält es sich so, dass unsere Vorfahren früh morgens, als sie das Haus verlassen haben, gesagt haben – der Wortlaut ist auf Kurdisch, aber ich versuche es auf Deutsch zu erklären: Sie haben Gott angerufen, dass er die damals 72 Völker beschützen soll und danach uns Ezid*innen. Wir Ezid*innen stammen von solch einem Vorfall, weshalb für uns als Menschen nur eine Sache wichtig ist: Egal, wo sie herkommen, wir setzen uns für alle Menschen ein, die unterdrückt sind. Wir setzen uns ein für Gerechtigkeit. Wir arbeiten mit allen Menschen, die ihr Herz wirklich für die ganze Welt geöffnet haben.
KV: Wie können unsere Communitys solidarisch miteinander sein?
Nure: Wir arbeiten ja bereits zusammen, aber wie kann man die Zusammenarbeit verbessern in Zukunft? Ich sage es mal so, wenn wir als Ezid*innen den 03. August vor uns haben und sich da alle Frauen der verschiedenen Vereine für diesen Tag einsetzen und sich wichtig fühlen würden oder, wenn die „Trostfrauen“ am 14. August eine Veranstaltung machen und wir Frauen gemeinsam sagen: „Das ist eine Sache, die nicht nur die „Trostfrauen“ betrifft, sondern es ist eine Veranstaltung, die uns alle betrifft. Alle Völker, die aus ähnlichen Gründen Vereine gegründet haben“, wenn wir unsere Geschichten gemeinsam fühlen, dann werden wir unsere gemeinsame Arbeit verbessern und unsere Solidarität wirklich verstärken. Ich sage wirklich „Dankeschön!“ für die Einladung und Jin, Jiyan, Azadî.