KV: Kannst du dich kurz vorstellen?
Marianne: Marianne Ballé Moudoumbou ist mein Name. „Moudoumbou“ bedeutet „der Mund“ in der Doualasprache. Ich bin in der panafrikanischen Frauenorganisation „PAWLO-Masoso“ als eine der Bundessprecherinnen tätig. PAWLO wurde 1994 in Kampala in Uganda gegründet. Wir sind eine panafrikanische Frauenorganisation, das heißt, uns geht es um eine Solidaritätsbewegung aller Menschen mit afrikanischen Vorfahren und besonders von Frauen. Ich bin auch stellvertretende Vorsitzenden des Zentralrats der afrikanischen Gemeinde in Deutschland – Gemeinde ist hier konfessionsfrei gemeint. Das ist auch eine Solidaritätsbewegung bzw. ein Verband der Afrikaner*innen hier in Deutschland. Ich bin auch tätig in der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen, unter anderem im Vertreter*innenrat, in VENRO, eine entwicklungspolitische Vereinigung, im Landesnetzwerk hier in Brandenburg und auch im BBT, im Bundeselternnetzwerk der Migrantenorganisation für Bildung und Teilhabe, und ich lehre an der Universität der Künste in Berlin und an der Alice-Salomon-Hochschule.
KV: Kannst du als Bundessprecherin von PAWLO von euren Aktivitäten und Zielen erzählen?
Marianne: In der pan-afrikanischen Frauenorganisation PAWLO-Masoso haben wir ein Projekt, das Vitamin P heißt. Dabei geht es darum, Kinder, Jugendliche, insbesondere in der Übergangsphase, zwischen Zuhause und Kita, Kita und Schule, Schule und weiterführende Schule, beziehungsweise Ausbildung oder später Studium oder Einstieg in die Arbeitswelt zu unterstützen und zu fördern. Seit 2019 haben wir über 400 Partnerschaften betreut. Das ist ein Teil der Aufgaben von PAWLO, die wir durchführen. Wir sind auch Teil der Bewegung für Restitution und für Reparationen und Teil der Bewegung zur Anerkennung des Völkermords gegen Herero und Nama und andere Völker in Namibia. Und was wir natürlich auch machen ist das Empowernment von Frauen im Allgemeinen, ob es hier ist, also in Deutschland oder international. Es geht zum Beispiel auch um Textilien – Tücher, Textilien, die von Handwerker*innen gemacht werden, insbesondere von Frauen, die Naturfarben benutzen. Die sind voller Symbole, voller Bedeutungen, die sehr stark gefährdet sind, verloren zu gehen. Doch Frauen setzen diese Traditionen fort. So werden diese Befreiungselemente gefördert und das Können und Wissen insbesondere von Frauen weitervermittelt. Wir beschäftigen uns auch mit natürlicher Schönheit, also mit unserem Haar. Und es geht auch um Friedensbewegungen, also dass wir damals zum Beispiel mit PAWLO an der Weltfrauenkonferenz von Beijing 1995 mit der Idee teilgenommen haben, dass es eine pan-afrikanische Friedensbewegung geben könnte. Das heißt, dass Frauen, die schon Veränderungen herbeigeführt haben wie etwa das Mano River Women‘s Peace Network, auch eine Inspirationsquelle sein können für Frauen, die zum Beispiel in der Demokratischen Republik Kongo, in der Sahelzone oder etwa in Kamerun auch Frieden schaffen möchten.
KV: Was kann dafür getan werden, dass Kolonialismus Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur wird? Welche Rolle spielt Erinnerung für dich?
Marianne: Die erste notwendige Änderung ist die symbolische und die semantische Änderung. Nehmen wir mal das Wort „Kolonialismus“. „Kolo“ bedeutet „sich niederlassen“, aber auch „pflegen“. Und das Wort, was Kolonialismus den Namen gegeben hat, „colere“, hat dieselbe Wurzel. Das bedeutet, dass wir ein Wort benutzen, so wie das Wort „Trostfrauen“, das eigentlich überhaupt nicht der Realität entspricht. Es geht doch um Gewalt. Aber wenn man sagt „Kolo“, das klingt, als ginge es um Gartenpflege. Die Communities in Ostafrika benutzen das Wort Maafa, um die verheerenden Folgen oder die Gräueltaten zu benennen, die auch unter deutscher Besatzung stattgefunden haben. Für mich ist das ein Wort, dass ich vorziehe. Dazu bin ich durch die Bücher von Professor Marimba Ani wie etwa „Let the Circle Be Unbroken“ gekommen. Und für mich ist das ein Wort, das viel mehr Sinn macht. Und was brauchen wir, damit es viel mehr in das Bewusstsein der Menschen dringt? […] Es geht um neue Definitionen von Begriffen, aber es geht auch um eine andere Art und Weise oder eine andere Perspektive, die wir anbringen, wenn wir Subjekte oder Objekte darstellen oder präsentieren. Zum Beispiel, dass man, wenn ein Kind entführt wurde, nicht einfach nur sagt, okay, dieses Kind wurde mitgenommen, sondern dass der Gewaltakt auch beschrieben wird. Und dass das Kind einen Namen und eine Biografie bekommt, wenn möglich. Daher auch die Bedeutung der Biografiearbeit. Und da ist nicht einfach nur ein Schatten, obwohl, wie wir wissen, auch Schatten sehr wichtig sind. Aber es geht um eine ganze Person, die sich da entfaltet, in unserem Gedächtnis und unserer Wahrnehmung. So ist es möglich, Gräueltaten ein Gesicht zu geben. Es geht bei dieser Arbeit auch um Gefühle. Es geht darum, Leid spürbar zu machen. Und was auch notwendig ist, ist eine Begegnung zwischen den Communities. Gestern habe ich mit einer Lehrerin aus Duala genau darüber gesprochen: Was ist denn passiert in Korea? Wie war es möglich, dass Frauen so viel Leid erleiden? Es ist ein Dialog zwischen den verschiedenen Communities notwendig, um besser zu rekonstruieren, was da passiert ist und um eine Grundlage zu haben, damit auch gegenwärtiges Leid in vielen Regionen der Welt einfach ein Ende hat. Ob es in Gaza, ob es in Teilen von Israel, ob es in der demokratischen Republik Kongo, ob es im Iran, ob es auf Haiti, Brasilien, Kamerun, in Nigeria oder Burkina Faso ist – egal wo, aber dass dieses Leid ein Ende nimmt, damit es keine Gewalt gegen Frauen mehr gibt, gegen Mädchen und sogar Babys, und damit auch Krieg in die Vergangenheit verbannt wird.
© Miyeon Choi
KV: Denkmäler spielen eine große Rolle in der Erinnerungskultur. Du engagierst dich für das afrikanische Denkmal. Kannst du davon erzählen?
Marianne: Im Rahmen unseres Projekts „Sankofa“ wurden wir zu einer Konferenz nach Berlin eingeladen. Und da wurde nach einer Weile ein Komitee errichtet zur Errichtung eines afrikanischen Denkmals in Erinnerung an die Held*innen, aber auch an die Opfer von allen Gräueltaten, von der Versklavung bis hin zum Neokolonialismus. Dieses Komitee existiert bis zum heutigen Tag. Jedes Jahr gehen wir auch auf die Straßen und demonstrieren. Das ist unser Gedenkmarsch zur Errichtung eines afrikanischen Denkmals. Warum? Weil es das als Denkmal in Deutschland nicht gibt. Es gibt eine kleine Erinnerungstafel in der Wilhelmstraße 92. Das ist da, wo die sogenannte Kongo-Konferenz am Ende des 19. Jahrhunderts stattgefunden hat, wo die Aufteilung Afrikas besiegelt wurde. Das gibt es, aber mehr nicht. Und das ist natürlich schade und nicht im Sinn von „Sankofa“. „Sankofa“ ist ein Symbol von den Akan, also aus Ghana, und es ist eigentlich der hintere Teil der Armee. Das heißt, der Teil der Armee, der den ganzen Zusammenhalt sichert. Das wird symbolisiert oder verkörpert durch einen Vogel, der sich dreht und nach hinten schaut. Es geht darum, in einem bewussten Prozess in die Vergangenheit zu gehen, um etwas zu holen, das bei dem Aufbau von der Gegenwart und der Zukunft hilft.
KV: Welche Entwicklungen beobachtest du auf internationaler Ebene in Bezug auf Erinnerungspraxis?
Marianne: Denken wir an die UN-Dekade für Menschen mit afrikanischen Vorfahren: Die geht bekanntlich dieses Jahr zu Ende. Sie hat 2015 angefangen. Die Grundlage dafür sind zum Beispiel das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung (ICERD) oder die Weltkonferenz gegen Rassismus von 2001. Die hat in Durban, in Südafrika, stattgefunden und dort entstanden die Erklärung und der Aktionsplan. Die Abkürzung für Durban Declaration and Programme of Action ist DDPA. Dort wurde das erste Mal in dieser Form auf UN-Ebene und in einem bindenden Dokument festgehalten, dass Versklavung und der Handel mit versklavten Menschen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt. Und es wird auch erklärt, welche Maßnahmen notwendig sind und ein Maßnahmenpaket festgelegt. Wenn das einfach umgesetzt würde, dann würden wir kein Problem mehr mit Erinnerungskultur haben. Aber so weit sind wir nicht. Es gibt ja sogar heute noch Formen der Versklavung. Etwa wenn Kinder im Bergbau tätig sind und tief unter der Erde arbeiten müssen, damit wir ein Stück Demokratische Republik Kongo in unserem Handy haben können, Coltan. Und jedes Mal, wenn wir ein Handy benutzen, haben wir eigentlich mit Versklavung zu tun. So viel zum Thema individuelle und kollektive Verantwortung. Es gibt Verbindungen zwischen der Ausbeutung der Erde und der Menschen, von Umweltzerstörungen und ihren Auswirkungen. Das sind natürlich Themen, die mich persönlich bewegen und die natürlich mit PAWLO in Verbindung werden können. Ich gebe noch ein anderes Beispiel: Im Moment wird überlegt, dass auf Shark Island – das ist dort, wo ein Konzentrationslager gegen Herero und Nama eingerichtet wurde – ob diese Insel verlängert wird, damit Wasserstoff erzeugt werden kann. Das ist natürlich ein Skandal. Das ist ein Ort der Erinnerung – dort stand ein Konzentrationslager, das erste Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts errichtet von den Deutschen […]. Also, es gibt eine direkte Verbindung zwischen der Nazi-Zeit und dieser Zeit. Also wir müssen einfach auch daran denken, dass es Geschehnisse gibt, die irgendwann mal stattgefunden haben und die bisher noch nicht aufgearbeitet werden und die auch ihre schrecklichen Auswirkungen bis zum heutigen Tag haben. […]
KV: Der Titel unseres Projektes lautet „Starke Denkmäler, starke Communitys gegen Rassismus!“. Was sind deine Assoziationen zu diesem Titel und der Friedensstatue?
Marianne: Für mich verkörpert die Statue all das, was ein Denkmal machen kann. Ich habe mir die ganze Zeit die Frage gestellt, wie eine zierliche Person, die auf einem Stuhl sitzt, eine so große Bedrohung darstellen kann für einen ganzen Staat. Das ist erstaunlich und ich finde es einfach fantastisch. Und ich bin jedes Mal berührt, wenn ich die Statue dort sehe, wo sie steht. Deswegen war es für mich so wichtig, auch die Miniaturversion der Friedensstatue in unserem Büro zu haben, als Erinnerung an das, was eine Solidaritätsbewegung leisten soll.
KV: Welche Assoziationen hast du noch in Bezug auf die Bedeutung der Friedensstatue?
Marianne: Wir haben die Istanbul-Konvention, wir haben die Resolution 1325 für die Beteiligung von Frauen an Friedensverhandlungen. Es gibt sogar andere Konventionen gegen die Gewalt gegen Frauen in Kriegszeiten. Aber die Realität ist ganz anders. Das heißt, Solidarität bedeutet auch, dass wir ein gemeinsames Schicksal haben und eine gemeinsame Verantwortung. Und wenn wir die ganzen Symbole der Friedensstatue sehen, ob die Füße, die Hände, die mit den Fäusten auf dem Schoß liegen, ob es die aufrichtige Haltung ist oder der Schatten. Ob du ein Mädchen bist oder ob du eine ältere Frau bist: Gewalt und insbesondere Vergewaltigung ist etwas, das dich dein Leben lang begleitet oder sogar an die nächste Generation weitervererbt wird. Und die Friedensstatue ist eine ständige Erinnerung, dass wir so stark sind und gemeinsam noch stärker. Und dass immer ein Platz frei ist, um sich danebenzusetzen und sich dieser Bewegung anzuschließen. Ich finde es auch so besonders, dass die Statue von einem Paar entwickelt wurde. Das bedeutet für mich: Wenn wir uns auch über die Geschlechter hinaus zusammenschließen, können wirklich die Welt bewegen. Es geht darum, zwischen den Menschen und dem gesamten Kosmos wieder Gleichgewicht herzustellen. Und das kann nicht passieren, wenn weiterhin Gewalt gegen Babys, gegen Mädchen und gegen Frauen aller Altersgruppen stattfindet. Also wenn wir von feministischer Außenpolitik sprechen, dann gibt es gleich verschiedene Aspekte mitzudenken. Wenn ein Land angegriffen wird, gibt es dann einen Schutz für Frauen? Und was passiert, wenn ganze Länder und Systeme zerstört werden? Wir haben gesehen, wie Menschen sich massenweise auf den Weg gemacht haben. Und so sind Tausende, Zehntausende von Menschen im Mittelmeer und vorher auf den Weg durch die Wüste ums Leben gekommen. Da gibt es alles von Vergewaltigungen bis zur Organentnahme. Man kann sich alles vorstellen. Mädchen, die vor den Augen ihren Müttern ermordet werden. Einfach nur aus Geldgier. Und feministische Außenpolitik, das würde bedeuten, dass eine Politik gemacht wird, damit das nicht mehr passiert und damit man nicht Menschen in Länder abschiebt, wo es klar ist, dass sie zum Beispiel als Frauen ein Schicksal erleiden müssten, das man nicht einmal den eigenen Feinden oder Feinden im Allgemeinen wünscht. Feministische Politik bedeutet in diesem Fall auch eine andere Politik: Bleiberecht für alle und eine andere Politik in Bezug auf Umwelt, aber auch einfach in Bezug auf Menschenrechte, Frauenrechte und Kinderrechte.
© Quang Nguyễn-Xuân und Thủy-Tiên Nguyễn