KV: Kannst du dich kurz vorstellen?
Israel: Ich heiße Israel Kaunatjike. Ich komme ursprünglich aus Namibia, ehemaliges Deutsch-Südwestafrika. Ich habe damals mein Land verlassen, mit 17 Jahren, und bin einer Volksbewegung Namibias beigetreten, um gegen das Apartheidsystem zu kämpfen. Ich bin in verschiedenen Ländern gewesen, aber heute lebe ich seit vielen Jahren in Deutschland. Ich bin Herero-Aktivist. Ich kämpfe für Wiedergutmachung, für Reparationen und für eine Entschuldigung. Ich kämpfe dafür, dass Deutschland sich entschuldigt für den Genozid damals in Deutsch-Südwestafrika, von 1904-1908.
KV: Wie heißt die Organisation, in der du aktiv bist?
Israel: Ich bin im Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“. Das ist eine Organisation, die mit anderen Aktivist*innen hier für Reparationen und für die Anerkennung des Völkermordes an den Hereros und Namas kämpft. Es ist eine Organisation die hier in Deutschland agiert. Ich arbeite auch mit vielen anderen Organisationen, wie Berlin Postkolonial e.V., der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und weiteren NGOs in Deutschland.
KV: Zwischen der deutschen Regierung und der namibischen Regierung gibt es Verhandlungen bzw. den Entwurf einer gemeinsamen Erklärung und eines Abkommens. Dagegen haben die Oppositionsparteien und die Vertreter*innen der Herero geklagt. Kannst du kurz erklären, warum?
Israel: Wie ihr wisst ist 2015 die Bundesrepublik Deutschland mit unserer eigenen Regierung, der namibischen Regierung, in Verhandlung gegangen. Sie haben diese Verhandlung jedoch ohne die betroffenen Völker, d.h. ohne die Herero und Nama abgehalten. Die Betroffenen waren demnach nicht eingebunden in diese sogenannte Verhandlung. Aufgrund der Tatsache, dass wir nicht einbezogen waren, lehnen wir diese Verhandlung ganz ab. In diesem Vertrag stehen auch viele Sachen, mit denen wir überhaupt nicht einverstanden sind. Zum Beispiel, steht da im Punkt 10, dass Deutschland die damals begangenen Verbrechen aus heutiger Sicht als Völkermord anerkennt. Wörtlich heißt das, dass sie den Völkermord überhaupt nicht richtig anerkennen. Wir wollen, dass es richtig als Völkermord anerkannt wird. Dann noch das Angebot, welches Deutschland gemacht hat, unserer Regierung über 30 Jahre hinweg 1,1 Milliarden Euro zu zahlen. Das ist mit uns auch nicht abgesprochen. Was sollen wir mit 1,1 Milliarden Euro anfangen? Das ist wie eine Entwicklungshilfe. Aber wir Hereros und Namas, wir wollen keine Entwicklungshilfe von Deutschland. Wir wollen Reparationen, punkt. Was anderes wollen wir nicht. Nicht, dass Deutschland uns noch vorschreibt, was wir machen sollen, ohne, dass wir uns selber bestimmen können. Das heißt Deutschland verfolgt immer noch diese imperialistische Politik, wenn sie uns sagen, was wir brauchen und was nicht, und das lehnen wir ab. Wir wollen von Deutschland neue Verhandlungen nur mit uns. Natürlich sollte unsere Regierung auch dabei sein, aber sie ist nicht legitimiert für uns zu sprechen. Es gibt z.B. seit 2007 eine Konvention der Vereinten Nationen, die auch sagt, dass die indigenen Völker sich selbst zu repräsentieren haben. Sie müssen die Möglichkeit haben, sich selbst mit Tätern an den Tisch setzen zu können. Und der Täter von damals heißt Deutschland. Das ist unsere Forderung und wir bleiben dabei: Nur mit uns. Ohne uns ist gegen uns. Wir werden niemals den jetzigen Vertrag unterschreiben.
KV: Der deutsche Kolonialismus ist immer noch kein Bestandteil der deutschen Erinnerungskultur oder des kritischen Selbstverständnisses der deutschen Gesellschaft geworden. Was kann dagegen getan werden? Welche Rolle spielt Erinnerung für dich?
Israel: Es ist so, dass wir nochmal daran erinnern, was damals passierte, z.B. in Deutsch-Südwestafrika. Was uns hier in Deutschland fehlt ist zum Beispiel, dass wir heute immer noch keine Denkmäler haben. Wir haben keine Denkmäler. Das betrifft den Sklavenhandel, aber es gibt auch gar keine Denkmäler für die Ermordung der Hereros und Namas. Da fehlt irgendetwas in der deutschen Erinnerung, weil wir wissen, dass Deutschland versucht immer Sachen zu vertuschen und unter den Teppich zu kehren. Wenn wir uns nicht engagieren, z.B. für die Straßenumbenennungen in Deutschland, welche wir bisher nur teilweise geschafft haben, dann ist für uns eigentlich eine [Aufarbeitung nicht in Sicht]. Deutschland versucht Angelegenheiten zu leugnen oder einfach nicht ehrlich zu sein mit der Vergangenheit. Das sind Angelegenheiten, mit denen wir in Deutschland an die Öffentlichkeit gehen und für sie mobilisieren müssen. Und das ist, was viele Organisationen hier auch thematisieren: Erinnerungskultur, Denkmäler und Straßenumbenennung. Diese Themen sind dafür da, dass man heute nicht vergisst, was man damals in den Kolonien, z.B. in Deutsch-Südwestafrika, Kamerun, Tansania, Togo und allen anderen Kolonien Deutschlands, gemacht hat.
KV: Du wurdest in letzter Zeit viel in Schulen eingeladen. Was erzählst du den Schüler*innen? Was sind ihre Reaktionen, wenn du ihnen von deiner Geschichte erzählst?
Israel: Für mich ist es wichtig als Zeitzeuge aufzutreten und bis jetzt habe ich wirklich sehr positive Reaktionen von allen Schüler*innen in ganz Deutschland bekommen. Sie haben jetzt angefangen sich auch mit dieser Geschichte zu beschäftigen. Schüler*innen schreiben z.B. ihre Arbeiten im Abitur über den Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Es geht für uns um diese Brutalität. Es geht für uns darum, dass es heute als Völkermord anerkannt wird. Da war der Vernichtungsbefehl von Lothar von Trotha, ein Volk einfach auszulöschen. Es fanden Vergewaltigungen von Frauen und Enteignungen von Land statt. Das war der Grund, warum unserer Vorfahren damals den Krieg gegen Deutschland angefangen haben, einen Befreiungskrieg. Es war ein Befreiungskrieg, gegen diese Unterdrückung, gegen Vergewaltigung von Frauen und Enteignung von unserem Land. Das versuche ich den Kindern beizubringen und es ihnen auch zu zeigen. Ich zeige viele Dokumentationsfilme. Unter anderem auch über meine Person als Aktivist und als Verfolgter durch den damaligen Apartheitsstaat, als ich mit 17 Jahren Namibia verlassen habe. Ich erzähle meine Biografie, dann über die Okkupation von Deutsch-Südwestafrika durch die deutschen Schutztruppen und über die Ermordung von Hereros und Namas, die schließlich auch zahlreich in Konzentrationslagern inhaftiert wurden. Das ist das wichtigste Thema, welches ich mit den Kindern oder mit Schüler*innen oder sogar mit Studierenden behandle. Darüber halte ich Vorträge an den Universitäten in Deutschland und das ist für mich die wichtigste Arbeit. Ich versuche die jungen Menschen hier zu erreichen und es ist für mich wichtig, dass sie auch hier Druck gegen die eigene Regierung machen.
KV: Warum gibt es noch kein angemessenes Denkmal für die Opfer des deutschen Kolonialismus in Berlin?
Israel: Wir haben leider kein Denkmal für den Genozid an den Hereros und Namas und auch nicht für den Sklavenhandel. Das ist eine Sache, für die sich alle hiesigen NGOs engagieren und versuchen Druck zu machen, damit Deutschland endlich, wenigstens ein Denkmal für den Völkermord, Kolonialismus und Sklavenhandel errichtet. Bis jetzt haben wir es allerdings noch nicht geschafft. Es gibt nur für jüdische Menschen sowie Sinti und Roma Denkmäler, aber für Afrikaner oder afrikanischen Kolonialismus, gibt es noch überhaupt keines. Das ist natürlich ein sehr trauriger Tatbestand, obwohl wir schon seit vielen Jahren engagiert sind. Es gibt sogar einmal im Jahr am 28. Februar eine Demonstration in Berlin, aber bis jetzt ist noch nichts passiert.
© Quang Nguyễn-Xuân und Thủy-Tiên Nguyễn
KV: Gibt es schon einen Entwurf für das Denkmal?
Israel: Ja, es gibt seit vielen Jahren einen Entwurf. Bis jetzt ist er allerdings noch nicht realisiert worden. Natürlich setzen wir, d.h. alle diese Gruppen und NGOs hier in Deutschland, wie Berlin Postkolonial e.V., ISD und der Afrikarat, uns damit auseinander. Ich kann so viele Organisationen nennen, die sich damit und mit dem Entwurf beschäftigen. Den Entwurf gibt es schon seit vielen Jahren, aber er ist immer noch nicht realisiert worden. Aber diese Realisierung hängt auch von der deutschen Regierung oder der deutschen Politik oder vom Berliner Senat ab. Denn wir sind ja in Berlin und es hat hier alles angefangen. Von hier aus ist 1884 bei der Berliner Konferenz die Aufteilung Afrikas organisiert worden. Hier in Berlin. Und hier wollen wir auch das Denkmal haben. Hier direkt in Berlin, nicht woanders. Hier, wo die Berliner Konferenz stattgefunden hat. Wir bleiben auch dabei und es muss auch irgendwann mal passieren.
KV: Hast du die Friedensstatue schon gesehen, die an der Ecke Birkenstraße/Bremer Straße (Berlin-Moabit) steht?
Israel: Ja, die habe ich schonmal gesehen, als ich vor zwei Jahren bei euch war. Ich fahre auch sehr oft mit dem Fahrrad hier durch die Gegend und habe viele Bekannte, die hier in Moabit leben. Sie kennen die Statue und man redet auch über die koreanischen Frauen, die durch das japanische Militär missbraucht wurden. Ich kann das auch vergleichen mit unseren Vorfahren, Mütter und Großmütter, die damals auch durch die Schutztruppen missbraucht, genauer gesagt, vergewaltigt wurden. Es ist eine parallele Geschichte. Bei Okkupanten oder Militär- oder Schutztruppen, wie bei uns, gehörte das zu ihrer Philosophie Menschen zu erniedrigen und beispielsweise zu sagen: „Ihr seid Menschen zweiter Klasse. Wir können mit euch umgehen, wie wir wollen.“ Sie haben unsere Mütter und Großmütter auch so erniedrigt. Das war ein weiterer Grund in Deutsch-Südwestafrika, um Krieg gegen die deutschen Schutztruppen zu beginnen, wegen Vergewaltigung von Frauen.
KV: Bei der Aufarbeitung des Kolonialismus beschäftigt ihr euch auch mit der Vergewaltigung von Frauen. Kannst du sagen, wie ihr die weit verbreitete Praxis von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigungen durch das deutsche Militär aufarbeitet?
Israel: Für uns ist das auch einer der Klagepunkte gegen Deutschland. Das übergeordnete Thema dieser Klage ist natürlich der Kolonialismus, aber die Vergewaltigung von Frauen, ist ebenfalls ein wichtiger Punkt für uns als Herero, weil wir alle betroffen waren. Meine Großmutter war auch betroffen von Missbrauch, ist selbst missbraucht worden. Meine eigene Großmutter! Das ist für mich eine Sache, die mir sehr am Herzen liegt. Und das gilt nicht nur für die Namas und die Hereros, dass man die Frauen auch in Konzentrationslagern vergewaltigt hat, missbraucht hat, zu Zwangsarbeit gezwungen hat. Die Frauen mussten sich an verschiedenster harter Arbeit beteiligen, wie zum Beispiel beim Eisenbahnbau in Deutsch-Südwestafrika. Das haben alles Frauen aus den Konzentrationslagern gemacht und das ist für uns sehr wichtig. Das ist unser Anliegen. Das steht auch in einem UNO-Bericht, d.h. die UNO und die Internationalen Gerichtshöfe wissen darüber Bescheid. Es ist alles registriert und es gibt zu allem Aufzeichnungen. Das sind keine Sachen, die wir nur so erzählen. Das gibt es alles schriftlich und in unserem nationalen Archiv gibt es auch Bilder, die zeigen, wie man mit Frauen umgegangen ist. Für uns ist es wichtig, dass Deutschland dafür geradesteht und das anerkennt.
KV: Möchtest du zum Schluss noch etwas sagen, auch in Bezug auf unsere Zusammenarbeit?
Israel: Für uns ist es wichtig, dass alle Gruppen, all die Betroffenen durch Kolonialismus, durch Militarismus sich solidarisieren und zusammenarbeiten. Wir haben die gleiche Geschichte erlebt. Unsere Vorfahren haben die gleiche Geschichte erlebt, d.h. wir sind heute die Sprecher*innen unserer Vorfahren. Weil wir da sind, sprechen wir heute für die Menschen, die nicht mehr da sind. Wir sind ihre Nachfahren und wir müssen einfach dafür kämpfen, für Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist nicht nur irgendwo in einer Verfassung, im Paragraph So-und-So zur Menschenwürde zu finden, die dann aber schlussendlich mit den Füßen getreten wird. Darum müssen wir uns, also alle Organisationen, alle Nachfahren in der Diaspora oder zu Hause solidarisieren und engagieren und für Gerechtigkeit kämpfen. Gerechtigkeit wird immer gewinnen.